Veranstaltung: | 44. Landesparteitag GRUENE LSA |
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Tagesordnungspunkt: | 3. Debatte zu Pandemie-Politik |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Landesparteitag |
Beschlossen am: | 24.04.2021 |
Eingereicht: | 27.04.2021, 22:47 |
Antragshistorie: | Version 1 |
Perspektiven aus der Pandemie - Niedriginzidenzstrategie für Sachsen-Anhalt jetzt angehen
Beschlusstext
In Deutschland und Sachsen-Anhalt steigen die Infektionszahlen seit Ende Februar
wieder exponentiell an. Als Bundesland mit den nunmehr viertschlechtesten Werten
bewegt sich die 7-Tage-Inzidenz in Sachsen-Anhalt aktuell rund um den Wert von
200. Tendenz steigend.
Die Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin geht davon aus, dass bis Ende
April mindestens 6.000 Intensivbetten in Deutschland durch Covid-19-Kranke
belegt sein werden – so viele wie auf dem Höhepunkt der zweiten Welle im
Dezember des vergangenen Jahres. Spätestens im Mai wird diese Zahl nach den
Prognosen überschritt werden. Im Süden unseres Bundeslandes sind die Kliniken
bereits am Limit. Im ganzen Land sind Ärztinnen und Ärzte sowie die Pflegenden
nach über einem Jahr Pandemie erschöpft und ausgebrannt.
Bereits jetzt müssen erneut Operationen in den Kliniken verschoben werden und
die Gefahr, dass es zu einer Triage in Krankenhäusern der Bundesrepublik kommen
kann, steigt täglich.
Das von Bund und Ländern im Sommer 2020 gesetzte Ziel, eine 7-Tage-Inzidenz von
50 auf 100.000 Einwohner*innen nicht zu überschreiten, wird bereits seit Oktober
des vergangenen Jahres nicht mehr eingehalten.
Der seit Monaten andauernde inkonsequente und nicht alle gesellschaftlichen
Bereiche gleichmäßig einbeziehende Lockdown führt u.a. zu massiven
Unterrichtsausfällen und klassenweisen Quarantänen, Schließung von
Ladengeschäften, Betrieben und Kultureinrichtungen, Existenzangst, Burn-Out-
Erkrankungen sowie psychischen und emotionalen Schäden.
Wir alle sehnen uns derweil nach Besuchen bei Freund*innen und Familie,
durchtanzten Nächten, Biergartenabenden, Theaterbesuchen und so vielem mehr,
ohne dafür unsere Gesundheit, unser Leben oder das anderer Menschen zu
gefährden. Die Einschränkungen seit März 2021 bringen uns diesem Ziel nicht
näher. Sie lassen die Pandemie außer Kontrolle geraten und bringen gleichzeitig
viele Menschen psychisch und physisch an ihre Grenzen. Mit diesen inkonsequenten
Maßnahmen werden wir weiter Menschen in der Pflege, Familien,
Kleinunternehmer*innen, Künstler*innen und viele andere unmenschlichen
Belastungen aussetzen und zehntausende vermeidbare Tote ebenso wie Long-COVID-
Betroffene beklagen.
Die nach dem Scheitern der Ministerpräsidentenkonferenz nun notwendig gewordene
„Bundesnotbremse“ bei einer 7-Tage Inzidenz ab 100 begrüßen wir grundsätzlich.
Ihre Ausgestaltung kritisieren wir. Sie löst das Problem nicht und wird – so
lange die Bundesländer keine eigenen, konsequenten Maßnahmen ergreifen – weiter
zu einem gefährlichen Jojo-Effekt führen.
Angesichts des weltweiten Infektionsgeschehens, und immer neu auftretender
Mutationen hilft nur eine Niedriginzidenzstrategie, eine Perspektive zu
entwickeln. Ein starkes Infektionsgeschehen bei laufender Impfkampagne erhöht
die Wahrscheinlichkeit, dass Mutationen auftreten, gegen die verfügbare
Impfstoffe nichts oder nur wenig ausrichten können. Nur niedrige Inzidenzen
sichern dauerhaft den Impferfolg und ermöglichen einen Ausweg aus der Pandemie.
Nur mit einer Niedrig-Inzidenz-Strategie können wir verhindern, dass unser
Gesundheitssystem zusammenbricht. Wir haben es jetzt in der Hand, vermeidbare
Todesopfer und Langzeiterkrankungen zu verhindern.
Länder wie Portugal haben gezeigt, dass eine Niedrig-Inzidenz-Strategie auch
unter den Bedingungen der aktuellen Mutationen möglich ist. Wir halten
konsequente und wirksame Maßnahmen für notwendig,
Gesamtgesellschaftliche Verantwortung tragen
In der Vergangenheit wurden einzelne Lockerungen und Ausnahmen stets mit dem
Argument begründet, dass das Ausbruchsgeschehen in genau diesem Bereich nicht
signifikant zum Gesamtgeschehen beitrage. Die Pandemie ist allerdings genau
deshalb so schwer zu bekämpfen, weil sich das Gesamtgeschehen mittlerweile aus
vielen Infektionsherden zusammensetzt. Folglich ist die einzige Lösung in allen
Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens Einschränkungen als Ausdruck
einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung jetzt gemeinsam und schnell
umzusetzen.
Konsequente Maßnahmen im Wirtschafts- und Berufsleben
Viele Unternehmen handeln in der Pandemie verantwortungsvoll und umsichtig.
Dennoch wird deutlich, dass die freiwillige Selbstverpflichtung für Home-Office
von zu vielen Unternehmen noch immer nicht ausreichend umgesetzt wird. Im
Infektionsschutzgesetz wollen wir daher eine Home-Office-Pflicht für alle
Arbeitsplätze einführen, an denen das möglich ist. Wo weiterhin in Präsenz
gearbeitet werden muss, soll von den Unternehmen ein verbindlicher Selbsttest
für alle Arbeitnehmer*innen zweimal pro Woche umgesetzt werden.
Die öffentliche Verwaltung muss dabei als Vorbild vorangehen.
Organisation des Schul- und Kitabetriebs
Uns liegt das Kindeswohl am Herzen. Deshalb machen wir uns hier die Entscheidung
nicht leicht. Wir wollen eine sorgfältige Abwägung zwischen dem Kindeswohl und
dem Infektionsschutz treffen. Eine hochinzidente Pandemielage mit Infektionen,
die von den Kindern in die Familien getragen werden und dort dramatische Folgen
haben können, sind für Kinder und Jugendliche mindestens ebenso belastend sein
wie lange Zeiten von ausschließlichem Distanzunterricht.
Niedrige Inzidenzen sind deshalb die beste Garantie dafür, das Kindswohl in
allen Belangen schützen zu können. Die nun im Infektionsschutzgesetz genannte
Grenze von 165 für den Wechsel in den Distanzunterricht ist zu hoch und für das
Kindswohl kontraproduktiv. Deshalb fordern, wir den Schwellenwert deutlich
abzusenken.
Eine mindestens zweimalige Testpflicht je Woche soll in den Schulen so lange
aufrechterhalten werden, bis die Impfquote in der Gesamtbevölkerung ausreichend
hoch ist. Wir trauen auch Kitakindern zu, sich testen zu lassen und begrüßen
deshalb die Testangebote des Sozialministeriums an alle Kita-Kinder.
Die notwendige Betreuung der Kinder durch einen Elternteil wollen wir auch
arbeitsrechtlich mit zusätzlichen Tagen absichern.
Kontrolle und Durchsetzung der Maßnahmen
Ein Grund für die negative Entwicklung der Pandemie seit dem vergangenen Herbst
ist das Nichtnutzen der Niedriginzidenzzeit im Sommer zur Entwicklung einer
nachhaltigen (Niedriginzidenz-)Strategie, sodass die Zahlen in Sachsen-Anhalt
und Deutschland anfangs wenig beachtet steigen konnten. Daran schließt sich die
halbherzige Umsetzung der dann ab Ende Oktober notwendig gewordenen Maßnahmen,
ja das aktive Verwässern durch einige Ministerpräsidenten, an.
Beschlossene Maßnahmen wollen wir konsequent umsetzen. Ihre Durchsetzung muss
kontrolliert werden. Das bedeutet, dass die Regeln im öffentlichen Raum, den
Betrieben und z.B. bei der Durchsetzung der Quarantäne stärker kontrolliert
werden müssen. Nur mit wirksamen Maßnahmen, konsequenter Durchsetzung und
effizienter Kontrolle bekommen wir die Pandemie in den Griff.
Ergänzung der Inzidenz-Zahl um eine weitere Kennzahl
Zu der Inzidenz-Zahl sollte eine weitere Messgröße hinzutreten: die Zahl der
Covid-19-Erkrankten, die auf Intensivstationen aufgenommen werden. Diese Zahl
ist ein verlässlicher und unbestechlicher Indikator für die Entwicklung der
Pandemie, die Auswirkung neuer Mutationen und auch für die Wirksamkeit von
Impfungen in den kommenden Monaten. Ob sie hoch ist oder niedrig, ob sie steigt
oder sinkt, soll rechtzeitig vor der Überlastung von Kliniken in die Betrachtung
einbezogen werden.
Wir wollen auch die Datengrundlage für politische Entscheidungen verbessern und
mehr Daten zur Beurteilung der pandemischen Lage öffentlich bereitstellen.
Unterscheidung zwischen drinnen und draußen
Die aktuelle Studienlage zeigt, dass sich in der nun anstehenden wärmeren
Jahreszeit Möglichkeiten bieten, im Außenraum anders mit der Pandemie umzugehen
als in Innenräumen. Im Frühjahr und Sommer sollten deshalb Sport für Kinder im
Außenraum und auch Begegnungen zwischen Menschen aus zwei Haushalten möglich
sein. Die Öffnung der Außengastronomie und entsprechende Modellprojekte können
aber erst in Betracht gezogen werden, wenn wir eine Inzidenz von unter 100
erreicht haben und diese wissenschaftlich begleitet werden.
Konsequente, wirksame Maßnahmen für alle Bereiche der Gesellschaft, solidarisch
getragen, sind unser Ziel. Erst eine Niedriginzidenzstrategie, die erreichte
Erfolge sichert, statt sie zu verspielen, bietet eine Perspektive für alle
Menschen und die Möglichkeit, unsere Freiheiten dauerhaft zurückzugewinnen
All dies schaffen wir nur, wenn wir es allen Menschen in Sachsen-Anhalt
ermöglichen, die nächsten Wochen auch finanziell zu überstehen. Wir brauchen
daher ein schnelles, solidarisches und unbürokratisches System, das
sicherstellt, dass Löhne, Gehälter, Sozialleistungen, Bafög usw. weitergezahlt
werden. Für Unternehmen und (Solo-)Selbsständige, die auf Grund der
"Bundesnotbremse" zeitweise schließen müssen oder während der Gültigkeit des
Gesetzes nicht wieder öffnen können, muss es zeitnah leicht zugängliche und
breit angelegte Hilfsprogramme geben. Wir wissen, dass unsere Forderungen eine
große Belastung für Menschen – insbesondere für Kinder und sozial vulnerable
Gruppen – darstellen.
Wir sind uns bewusst, dass alle Menschen müde sind und das Vertrauen in die
politischen Entscheidungen erodiert. Genau aus diesem Grund sollten wir uns
jetzt auf einen Weg begeben, der eine tatsächliche Entspannung der Pandemielage
innerhalb weniger Wochen ermöglicht und diese Erfolge nachhaltig sichert. So
können wir unsere Freiheiten zurückgewinnen.